Ein neuer Frühling

Schneller muss es gehen
schneller und schneller
wir brauchen mehr
mehr und mehr brauchen wir
wir werden nicht genug haben
wir sind bedroht
sie werden uns überholen
vielleicht morgen schon
Angst wuchert

Erschöpfter Hunger nach Leben
Flucht in Unterhaltung
einsam
extrem heißt Erlebnis
neu und mehr
schnell verschlungen
starres Programm, sieben Tage lang


Digital ist gleich nachhaltig
und schneller
bist du etwa nicht dafür?
wir brauchen doch die Erde
ihre Schätze brauchen wir
sogar für digital
und das ist schneller


Bedächtiger Pilgerschritt
die Seele geht zu Fuß
gemeinsam
in Liebe geben
empfangen das Kostbarste
Kunst der Zeremonie
Traumräume öffnen sich
Zeit spielt keine Rolle
Schönheit


Anderen Wesen lauschen
melodische Worte
Chatten geht hier nicht
viel könnten wir lernen
wenn wir zur Ruhe kämen
genug Zeit
für ein besseres Leben
geheiltes Herz


Seid beruhigt
Sie nährt uns alle
Sie hat immer genug Zeit
Auch jetzt noch
Wir aber sollten teilen lernen
Ihre Schätze unantastbar
Heilig, was sie uns schenkt
Gedeihen wird Freude
ein neuer Frühling


Jedes Mal, wenn die Erde im Frühling wieder zu ihrer vollen Lebenskraft erwacht, staune ich über ihre Fähigkeit, sich selbst zu erneuern. Trotz allem, was wir ihr antun, bringt sie unentwegt Leben und damit auch Nahrung für uns hervor.


Dass sie auch gebärt, was uns möglicherweise schadet, sehen wir allerdings nicht so gerne. Ein einfaches Beispiel: Mit dem grünen und blühenden Überfluss, der aus ihr herausquillt und uns erfreut, sind nicht nur bunte Schmetterlinge und fleißige Bienen zurückgekehrt, sondern auch solche Insekten, die unangenehme Erfahrungen für uns bereithalten. Schädlinge, die immer mehr werden, Steckmücken, Zecken und andere Plagegeister können einem die Frühlingsstimmung schon ordentlich vermiesen!


Nein, Mutter Natur ist nicht harmlos. Wir dürfen sie nicht verniedlichen; sie verlangt Respekt von uns!

 
Doch Liebe und Respekt schließen einander keineswegs aus, ganz im Gegenteil: Sollten wir etwa Menschen, die wir lieben, nicht auch respektieren? Was für eine Liebe wäre das ohne gegenseitigen Respekt für unser ganzes Wesen? Leider gibt es viel zu viel davon in unserer ach so zivilisierten Welt. Die Folgen davon sind gravierend: Reduzieren oder verharmlosen wir uns gegenseitig, sprechen wir einander auch die Fähigkeit ab, etwas Wirkungsvolles zur Welt beizutragen.

 
Fehlender Respekt voreinander pervertiert die Liebe zu einem Machtspiel, das sich auch in unserem lieblosen Umgang mit der lebendigen Erde zeigt. 


Hier zeigt sich wieder einmal, wie heilungsbedürftig unsere Beziehung zu Pachamama ist. Anstatt (wieder) zu lernen, mit ihren lebensspendenden wie mit ihren lebensgefährlichen Eigenschaften zurechtzukommen, flüchten wir uns lieber in die Scheinsicherheit einer virtuellen Welt, die uns die Illusion von Kontrolle über alle natürlichen Vorgänge gibt. Oder wir wollen nur ihre freundliche, liebliche Seite sehen und nicht die wilde, unbändige. Dann bewegen wir uns lieber nur in einer vom Menschen gezähmten Natur auf wohlpräparierten, wenn auch seelenlosen, viel zu breiten Wegen, wo uns keine Wurzeln oder Steine zum Stolpern bringen können. Gar nicht zu reden von Raubtieren, die wir doch längst aus unserer Welt verbannt haben und deren mögliche Anwesenheit uns jetzt, da sie zurückgekehrt sind, in Panik versetzt. So schnell wie möglich wollen wir sie wieder loswerden, denn hier gehören sie nicht her!


Wenn wir uns schon in unbewohnte Gebiete hinauswagen, dann aber auf jeden Fall mit Smartphone und in neuester Hightech-Bekleidung. Wir müssen uns schließlich vor den Elementen schützen, es könnte uns etwas zustoßen und außerdem könnten wir uns ohne GPS verlaufen!


Betrachten wir die Dinge jedoch unter einem anderen Blickwinkel, dann müssen wir zugeben, dass wir traurigerweise unsere Orientierungsfähigkeit verloren haben, uns selbst überdomestiziert haben und mit all unserem Bemühen, die Erde weniger bedrohlich für uns zu machen, dazu beigetragen haben, dass sie immer mehr hervorbringt, das schädlich für uns ist – auch hier, wo wir sie am meisten gezähmt haben.


Gehen wir davon aus, dass sie zwar eine respektgebietende, doch nichtsdestoweniger liebende Mutter ist, dann ist es möglicherweise so, dass sie uns etwas lehren will. 


Es wäre eine neue Einstellung, ihr selbst und ihren Wesen als Lernende zu begegnen und nicht als Beherrscher. Wir würden aus dem Staunen nicht mehr herauskommen und eine unglaubliche Schönheit finden, die nicht niedlich ist. Es würde unser Herz berühren und unsere Seele nähren, so dass wir selbst unsere kreative Kraft, das heißt unseren göttlichen Funken in viel weitblickenderer und auch demütigerer Weise einsetzen würden. Wir wären glücklich darüber, Teil des immensen Transformationsprozesses zu sein, den wir die Schöpfung nennen. Wir wären uns dessen bewusst, dass wir zu einem höchst komplexen Weltgewebe, das sich in immer größerer Schönheit entfaltet und ordnet, beitragen können und würden die Verantwortung, die das mit sich bringt, freudig annehmen. Wir könnten ein besseres, sprich glücklicheres Leben haben, auch wenn sich nicht alle Gefahren beseitigen lassen. Wir würden lernen, ein gutes Zusammenleben mit unseren Mitwesen auszuhandeln und unseren Platz unter ihnen in Würde und Liebe einzunehmen. Es gäbe weit mehr zu gewinnen als zu verlieren, und nicht nur für uns. Ein derartiger Wandel in unserer Beziehung mit ihr würde tatsächlich Frühlingsgefühle bei Pachamama aufkommen lassen!


Mit Munay*,

Waltraud Hönes

(Gründerin der Wayna Fanes- Tradition)


*Munay (Quechua): Bedingungslose Liebe, eigentlich: Liebender Wille

Fachbeitrag von Waltraud Hönes für “Spirit Online”, 2023

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